Die Flirt-Varianten entkommen unserer Immunabwehr. Wir erklären die wichtigsten Fakten zu Symptomen und Gefährlichkeit. Und welche Rolle die Fussball-EM bei der Verbreitung spielte.
Stephanie Lahrtz (Text), Anna Weber (Infografik), Eike Hoppmann (Infografik)
4 min
Das Coronavirus ist wieder vermehrt unterwegs. Bei der Tour de France wird das sichtbar: Seit Sonntag (14.Juli) gilt für die Mixed Zone, wo sich Fahrer, Teammitglieder sowie Journalisten treffen, eine Maskenpflicht. Denn in den vergangenen Tagen mussten mehrere Fahrer wegen einer Corona-Infektion ausscheiden.
Entgegen den Erwartungen, dass man im Sommer Ruhe habe vor dem Coronavirus, steigen in vielen Ländern weltweit seit Wochen wieder die Infektionszahlen. Schuld daran sind zwei neue Varianten namens KP.3 und KP.2.
Neue Omikron-Abkömmlinge kursieren weltweit
Die beiden Varianten stammen aus der grossen Familie der Omikron-Varianten. Sie sind direkte Abkömmlinge von JN.1. Diese Sars-CoV-2-Variante hat im vergangenen Herbst und Winter für eine sehr grosse Corona-Welle gesorgt. Im Vergleich zu ihrer Mutter JN.1 sind KP.3 und KP.2 an einigen Stellen im Stachelprotein verändert. Mit dem Stachel dockt das Virus an unsere Zellen an.
Die Abweichungen sorgen dafür, dass unsere Immunabwehr weniger gut an die KP.3- und KP.2-Viren binden kann. Dementsprechend werden sie nicht mehr neutralisiert: Es kommt auch bei Genesenen und Geimpften zu einer Infektion.
Die Veränderungen haben den neuen Varianten auch ihren Spitznamen eingebracht. Sie werden von Experten Flirt-Varianten genannt. Damit soll nicht gesagt werden, wie man die Varianten hauptsächlich aufschnappt. Vielmehr sind die Buchstaben Abkürzungen für die Veränderungen.
Dominante Varianten in der Schweiz und Deutschland
In der Schweiz wie auch in Deutschland haben die Flirt-Varianten seit Anfang Juni das Zepter übernommen. Mittlerweile sind sie für jeweils mehr 75 Prozent aller Corona-Infektionen verantwortlich. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.
«Wir haben wieder eine Corona-Welle», sagt der Infektiologe Huldrych Günthard vom Universitätsspital Zürich (USZ). Da es keine offiziellen Testkampagnen mehr gibt, kann niemand sagen, wie viele Corona-Infektionen derzeit wirklich passieren. Aber die Abwasserdaten zeigen: Es gab einen Anstieg in den vergangenen Wochen.
In Deutschland zirkulieren ähnlich viele Viren wie im Oktober 2023 beziehungsweise Januar 2024, also zu Beginn und am Ende der grossen Winterwelle.
Die Lage in der Schweiz ist ähnlich. Tanja Stadler ist Virenexpertin an der ETH. Sie sagt, im Abwasser hierzulande seien ähnlich viele Sars-CoV-2-Viren vorhanden wie Ende Januar 2024. Es sei jedoch nicht möglich, daraus die Inzidenz zu berechnen.
Zwei weitere Indizien sprechen dafür, dass es derzeit eine Corona-Welle gibt. So wird in Laboranalysen vermehrt Sars-CoV-2 in jenen Proben gefunden, die von Personen mit Erkältungssymptomen stammen. Anfang Juli enthielten in der Schweiz rund 20 Prozent der Proben das Coronavirus, in Deutschland sind es über 12 Prozent.
Zudem gebe es generell derzeit wieder mehr respiratorische Infekte, das sehe man bei Patienten wie auch dem Personal im USZ, sagt Günthard. Es werde nur wenig getestet. Er vermutet viele unerkannte Corona-Infektionen. Erkältete Personen können schnell Gewissheit bekommen, denn die gängigen Corona-Tests funktionieren bei den Flirt-Varianten.
Auch andere Länder, darunter Italien, Spanien, die USA oder Grossbritannien, melden steigende Corona-Zahlen. Vielerorts hat die Anzahl Infektionen um bis zu 20 Prozent zugenommen.
In den USA – dort sind KP.3 und KP.2 etwas früher aufgetreten – melden Spitäler aus New York, Kalifornien oder Florida bereits seit Anfang Juli eine leicht steigende Zahl von Corona-Patienten. Dabei handelt es sich vor allem um Personen ab 65 Jahren.
Das Virus nutzt Fanmeilen und Wahlveranstaltungen
Was überall mit einem gewissen Staunen zur Kenntnis genommen wird: Die derzeitige Welle ist deutlich grösser als jene im vergangenen Sommer. So meldet Spanien sechsmal so viele Neuinfektionen wie vor einem Jahr. Die USA haben eine doppelt so hohe Hospitalisierungsrate wie im vergangenen Sommer.
Das liegt vor allem daran, dass dieses Jahr Varianten, die unserer Immunabwehr entkommen, früher aufgetreten sind. Zugleich gab es auch deutlich mehr Verbreitungsmöglichkeiten als im letzten Sommer.
So war das Wetter vielerorts in Europa, so auch in der Schweiz oder Deutschland, im Frühjahr nicht so gut. Somit trafen sich mehr Menschen in Häusern. Dasselbe gilt, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, für die USA. Hier herrscht in vielen Regionen vor allem im Westen und Süden seit Wochen eine grosse Hitzewelle, was ebenfalls mehr Menschen in Innenräume treibt.
Und dann hat natürlich die Fussball-EM mit Fanmeilen und zahlreichen grossen und kleinen Public Viewings für ideale Verbreitungsmöglichkeiten gesorgt. In den USA bieten zudem die Wahlkampfveranstaltungen ein ideales Terrain für die Virusweitergabe. In der Schweiz gab es zudem viele gut besuchte Open-Air-Veranstaltungen. Über all das freuen sich hochansteckende Coronaviren.
Die unerwartet hohe Sommerwelle zeigt, dass das Coronavirus nicht derart saisonal unterwegs ist wie zum Beispiel das Influenzavirus. Denn Sars-CoV-2 verändert sich deutlich häufiger. So tauchen immer wieder neue Varianten auf, die unserer Immunabwehr entwischen, und dies eben auch im Sommer.
Wie gefährlich sind die Flirt-Varianten?
Gefährlicher als frühere Coronaviren sind die Flirt-Varianten allerdings nicht. Gemäss Experten besitzen die allermeisten Menschen mittlerweile eine ausreichend robuste Abwehr gegen schwere Erkrankungen, aufgebaut durch frühere Infektionen sowie Impfungen. «Wir haben derzeit keine schweren Covid-Fälle im USZ», betont Günthard. Ohnehin seien diese sehr selten geworden.
Die neuen Varianten verursachen die altbekannten Symptome. Das sind hauptsächlich Schnupfen und eine triefende Nase, Husten, Hals- und Kopfweh sowie Abgeschlagenheit. Es kann aber auch zu Fieber und Geruchs- oder Geschmacksverlust kommen. Nach fünf Tagen ist der Spuk in der Regel vorbei. Für Personen mit einem geschwächten Immunsystem oder anderen Risikofaktoren für eine schwere Covid-Erkrankung stehen Medikamente zur Verfügung, die die Virusvermehrung hemmen.
Eine passgenaue Impfung für die neuen Varianten existiert derzeit nicht. Kürzlich hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA angeordnet, dass für den Herbst Corona-Vakzine produziert werden sollen, die Bestandteile von JN.1, also der Muttervariante der Flirt-Kinder KP.3 und KP.2, enthalten. Diese Impfungen werden Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen zur jährlichen Auffrischung empfohlen.
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